Der Mensch als Ware
Die 1847 in Berlin gegründete Firma Siemens entwickelt sich schnell zu einem internationalen Großkonzern. In den 1930er Jahren ist das Unternehmen Branchenführer der deutschen Elektroindustrie und profitiert von Wirtschaftsaufschwung und Aufrüstung. Siemens setzt an vielen Orten während des Zweiten Weltkrieges mindestens 80.000, wahrscheinlich über 100.000 Zwangsarbeiter:innen ein: deutsche Jüdinnen und Juden, aus dem besetzten Europa verschleppte Zivilist:innen, Kriegsgefangene, Strafgefangene und KZ-Häftlinge. Sie müssen in Berlin und weiteren Firmenstandorten sowie in fast 400 Verlagerungs- und Ausweichbetrieben unter menschenverachtenden Bedingungen für die Kriegsproduktion arbeiten. Das ermöglicht Siemens auch eine Expansion in die besetzten Gebiete. 1943 entsteht beispielsweise ein Werk in Bobrek, einem Außenlager von Auschwitz.
Wie alle deutschen Unternehmen übernimmt Siemens nach 1945 jahrzehntelang keine Verantwortung für die Zwangsarbeit. Nur für überlebende jüdische KZ-Häftlinge stellt Siemens 1962 sieben Millionen Mark zur Verfügung, lehnt aber eine rechtliche oder moralische Verpflichtung ab. Erst mit der breiten Debatte über die NS-Zwangsarbeit in den 1990er Jahren und wegen der Sammelklagen in den USA ändert sich diese Haltung: Siemens gründet 1998 einen firmeneigenen „Humanitären Hilfsfonds für ehemalige Zwangsarbeiter“ und beteiligt sich 2000 an der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Seit 2010 organisiert Siemens für Auszubildende in Kooperation mit der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück jährlich Erinnerungsprojekte.
Die Geschichte der NS-Zwangsarbeit bei Siemens ist bis heute nicht umfassend aufgearbeitet. Das betrifft insbesondere den Zwangsarbeitseinsatz der zivilen Zwangsarbeiter:innen, der Kriegsgefangenen, aber auch der Sinti:zze und Romn:ja.
Carl-Friedrich von Siemens (links), Aufsichtsratsvorsitzender der Siemens-Schuckertwerke mit Adolf Hitler, 10. November 1933 © Alamy
Berlin, 10. November 1933: Letzte Wahlrede Hitlers vor Arbeitern des Siemens-Dynamowerkes, 10. November 1933 (Reichstagswahl u. Volksentscheid zur Außenpolitik Hitlers am 12.11.1933). Zwei Tage vor der Reichstagswahl am 12. November 1933 wird die von antisemitischer Hetze geprägte Rede als Höhepunkt des „Wahlkampfes“ inszeniert, im Radio sowie mit Lautsprechern auf öffentlichen Plätzen übertragen. Foto.
Hier aufgeschlüsselt sind die Beschäftigten bei Siemens nach den Kategorien Deutsche, Ausländer (= zivile Zwangsarbeiter:innen), Juden (= Deutsche im „geschlossenen Arbeitseinsatz“), Kriegsgefangene sowie KZ-Häftlinge (darunter befanden sich auch Jüdinnen und Juden).
Demonstration für die Entschädigung von Zwangsarbeiterinnen bei Siemens, Berlin, 3. März 1997 © Silke Radosh-Hinder
Vergleicht man den Umsatz von 1939 (1.181 Mio) mit dem von 1944 (1.812 Mio), lässt sich eine Umsatzsteigerung in den Jahren des Zweiten Weltkrieges von rund 54 Prozent ausmachen.